Kunst und Recht

Christoph Martin Wieland von Anton Graff 1794

Christoph Martin Wieland von Anton Graff 1794" by Anton Graff
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C. M. Wieland - "Le Voltaire de l‘Allemagne", oder: Literarisches Staatsdenken zwischen Spätaufklärung und Frühliberalismus

Von Rechtsanwalt Dr. Torsten Walter, M. A., Berlin

I. Einleitung

Christoph Martin Wieland (1733-1813) überzeugte sein Publikum nicht nur als bedeutendster deutscher Vertreter des literarischen Rokoko. Auch als politischer Schriftsteller bewies der Spätaufklärer überragende Qualitäten und sah unter anderem den Sturz der französischen Direktorialregierung durch Napoleon Bonaparte voraus. Deshalb überrascht es nicht, daß Bonaparte bei einem Aufenthalt in Weimar seine Reverenz keineswegs dem heute sogleich mit dieser Stadt assoziierten "Dichterfürsten" Goethe erwies, sondern dem "Voltaire de l‘Allemagne" und Propheten seiner Alleinherrschaft.

Anders als sein jüngerer Zeitgenosse Goethe sah Wieland in der Politik kein "garstig Ding". Seine Literaturzeitschrift "Teutscher Merkur" diente einer namhaften Autorenschaft immer auch als Diskussionsforum für politische und gesellschaftliche Zeitfragen. Wieland selbst referierte und kommentierte hier in unzähligen Beiträgen die revolutionären Umwälzungen im französischen Nachbarland. Seine Erkenntnisse befähigten ihn schließlich zu der damals vielbeachteten Prognose der napoleonischen Ära.

Doch weniges ist so vergänglich wie der Ruhm. Wieland teilt heute das Schicksal der gesamten literarischen Vorklassik mit Ausnahme Lessings und gilt außerhalb fachwissenschaftlicher Kreise als vergessener Autor, sein Werk als ästhetisch und philosophisch überholt.

Dies, obwohl ihm die deutschsprachige Literatur ihren ersten Entwicklungsroman ("Geschichte des Agathon"), das erste Drama in Blankversen ("Lady Johanna Gray") und den ersten Operntext auf Deutsch ("Alceste") verdankt; seine Berufung zum Erzieher des Prinzen Carl August von Weimar bildete 1772 den Ausgangspunkt der späteren Weimarer Klassik. Wieland gründete die erste Literaturzeitschrift seines Landes ("Teutscher Merkur"), trat noch vor Schlegel/Tieck als erster deutscher Shakespeare-Übersetzer hervor und förderte maßgeblich die schriftstellerische Tätigkeit von Frauen, namentlich der Sophie LaRoche. Wielands Verleger Göschen würdigte die avantgardistische Bedeutung seines Autors durch die Herausgabe sämtlicher Werke - ebenfalls ein Novum - als 39bändige Gesamtausgabe. Dadurch provozierte er allerdings auch eine der ersten nennenswerten urheberrechtlichen Auseinandersetzungen in Deutschland mit Wielands früheren Verlegern .

Mit dem Dichter ist zugleich der Staatsdenker Wieland in Vergessenheit geraten: In den meisten seiner Romane, Erzählungen und Versdichtungen, aber auch in zahlreichen publizistischen Beiträgen, Essays und Kritiken nimmt die Erörterung von Staat und Recht so breitem Raum ein, daß sein Werk quasi die literarische Quersumme der allgemeinen Staatslehre und politischen Philosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts bildet. Dabei zeigt sich, daß die Staatsauffassung Wielands im Unterschied zu seiner Ästhetik, die von der epischen Prosa der Klassik verdrängt wurde, alles andere als antiquiert ist. Vielmehr vollzieht sein politisches und literarisches Werk die antiabsolutistische Wende der Spätaufklärung und formuliert ein in vielem heute noch - oder besser: heute wieder - aktuelles Bekenntnis zum Frühliberalismus .

II. Die Staatsauffassung Wielands

1. Allgemeines Staatsverständnis

Der Staat, und mit ihm das Recht, hat für Wieland die Aufgabe, den einzelnen zur sittlichen Vervollkommnung im Sinne des Humanitätsideals der Aufklärung zu führen. Dieser Zweck läßt sich für unseren Autor am besten durch die monarchische Staatsform erreichen. Wieland fordert zwar schon in seinen frühen Schriften eine konstitutionelle Bindung der Monarchie, gleichwohl ist sein Staatsverständnis noch stark vom aufgeklärten Absolutismus geprägt. Infolgedessen kennt weder seine literarische Auseinandersetzung mit den damaligen staatlichen Gegebenheiten, noch sein Entwurf eines idealen Gemeinwesens einen staatszweckneutralen Daseinsbereich. Im Gegenteil: Der aufgeklärt-absolutistische Souverän greift kraft seiner überlegenen Einsicht erziehend und kontrollierend in sämtliche Belange seiner Untertanen ein. Dagegen unterliegt der Fürst als personaler Träger der Souveränität selbst keiner nennenswerten rechtlichen Bindung, sondern allenfalls einer ethisch begründeten Selbstbeschränkung.

Als Ergebnis einer langjährigen Beschäftigung mit seinem Erkenntnisgegenstand gibt Wieland jedoch seine Parteinahme für die absolutistische Staatsordnung auf, um sich in seinem Spätwerk nachdrücklich für den liberalen Rechtsstaat einzusetzen. Die historische Wirklichkeit des Spätabsolutismus hatte bei ihm die Einsicht befördert, daß die bestehende anstalts- und obrigkeitsstaatlich organisierte Ordnung die Erwartungen nicht erfüllen konnte, die insbesondere das nach sozialer Geltung und bescheidener politischer Teilhabe strebende Bürgertum in sie setzte, sondern die geforderte politische, sittliche und wirtschaftliche Entfaltung behinderte. Wieland suchte und fand daraufhin in dem Phänomen der Geheimgesellschaft und in der Idee von einer universellen Gelehrtenrepublik soziale und kulturelle Alternativen zur herrschenden absolutistischen Ideologie. Darüber hinaus bestätigte ihn das abschreckende Beispiel des jakobinischen Terrors in seinem Bemühen um ein individualistisch geprägtes Gemeinwesen, in dem sich jeder einzelne mit naturrechtlich hergeleiteten Abwehrrechten vor hoheitlichen Übergriffen zu schützen vermag. Demgemäß vertritt er in seinem Spätwerk die Auffassung, daß die Staats- und die Rechtsordnung nur noch den äußeren Rahmen für die ideelle und materielle Entwicklung selbstverantwortlicher Staatsbürger herzustellen hat, deren standesbedingte Ungleichbehandlung (jedenfalls in seinen Dichtungen) weitgehend mediatisiert ist. Zugleich tritt an die Stelle der willkürlichen politischen Selbstbeschränkung des Herrschers im Absolutismus eine institutionalisierte Herrschaftskontrolle nach den Maßgaben der liberalen Staatsidee und der politischen Öffentlichkeit, durch die sich die allgemeine Vernunft verwirklicht.

Wielands anfängliches Eintreten für den aufgeklärten Absolutismus im Staatsroman "Der goldne Spiegel" und seine biographische Nähe zum Ancien régime als Geheimer Hofrat und Erzieher des Erbprinzen von Weimar speisen in der Forschungsliteratur vielfach die Fehleinschätzung, sein politisches Denken "verfilze" sich zeitlebens mit der Ideologie der überkommenen absolutistischen Gewalten. Die Entwicklungsgeschichte seines Staats- und Rechtsdenkens vom Absolutismus zum Liberalismus und die daraus zwangsläufig folgende Distanzierung von der alten Herrschaftselite nimmt die Forschung entweder nicht zur Kenntnis oder tut sie irrtümlich als widersprüchlich ab.

2. Gerechtigkeitsbegriff

Dem gewandelten formellen Staatsverständnis Wielands entspricht eine inhaltliche Neubestimmung seines Gerechtigkeitsbegriffs, in dessen Zentrum die antik-mittelalterliche, von Aristoteles und Thomas von Aquin geprägte Gerechtigkeitsformel des "suum cuique tribuere" steht. In seinem Roman "Der goldne Spiegel" (1772) versteht Wieland sie noch wesentlich aus der Perspektive des obrigkeitlichen Wohlfahrtsstaats als ethische Maxime des Herrschers, jedem Untertan das Seine zu gewähren. Im "Aristipp" (1800-02), Wielands letztem großen Roman, wird die Gerechtigkeitsformel dagegen nur noch negativ aus der Perspektive des Besitzindividualismus bestimmt. Es gilt nunmehr, jedem Bürger das Seine zu lassen, letztlich also den rechtlichen Rahmen für eine selbständige ideelle und materielle Entwicklung bereitzustellen.

III. Die literarische Umsetzung der Staatsauffassung

Der Wandel in seiner Staatsauffassung wird von Wieland nicht nur theoretisch-diskursiv vollzogen, sondern kommt auch ästhetisch im Medium seiner Dichtung zum Tragen. So entspricht der Weiterentwicklung seiner politischen Philosophie vom Absolutismus zum Frühliberalismus eine konzeptionelle Umstrukturierung der von ihm gestalteten literarischen Sujets im Sinne ihrer "Entstaatlichung" bei gleichzeitiger "Verbürgerlichung" der Handlungsträger. Neben der sich herausbildenden außerhöfischen politischen Öffentlichkeit entsteht eine autonom geregelte Privatsphäre der Protagonisten, die weitgehend von staatlichen Einflußnahmen abschottet ist.

1. Vorrevolutionäre Ästhetik

Wielands politische Dichtungen vor der Französischen Revolution ästhetisieren zunächst nur eine Zweiteilung des Gemeinwesens in Fürst und Volk, ohne dadurch die funktionelle Trennung von Staat und Gesellschaft zu implizieren. Der "bürgerliche Verein", von dem Wieland spricht, wird begrifflich noch als untertäniges, ständisch gegliedertes Staatsvolk gefaßt, das sich zumeist einer monarchischen Regierung unterwirft. Die eigentlichen politischen Handlungsträger in seinen "vorrevolutionären" Dichtungen sind morgen- oder abendländische Herrscher; Handlungsraum des politischen Lebens ist die höfische Öffentlichkeit, die nur wenig Ansatzpunkte für eine bürgerliche Einflußnahme bietet. Wielands Helden sind deshalb vor allem auf den privaten Dialog mit ihren fürstlichen Mentoren angewiesen, um ihnen die politische Programmatik der Aufklärung vermitteln zu können.

2. Literarischer Konfiguarationswechsel

Der Einheit von gesellschaftlicher Transformation und struktureller Transformation der Künste entsprechend ist für die Dichtungen Wielands - in etwa zeitgleich mit der Französischen Revolution - eine fortschreitende Verbürgerlichung und Vergesellschaftung von Stoffwahl und Handlungsverlauf charakteristisch. Die Handlungsträger in seinen "nachrevolu-tionären" Dichtungen haben die höfische Bühne verlassen und besetzen einen gesellschaftlichen Binnenraum, der sich aus der staatlichen Einflußsphäre ausspart und der von ihnen autonom und gleichberechtigt geregelt wird. Zusätzlich zu den so konstituierten staatszweckneutralen Daseinsbereichen, in denen die adligen und bürgerlichen Lebenswelten miteinander verschmelzen, wird im Briefroman "Aristipp" (1800-02) eine "République des lettres" bzw. Gelehrtenrepublik geschaffen. In ihr konstituiert sich die bürgerliche Gegenöffentlichkeit, die das staatliche Geschehen aus der gesellschaftlichen Perspektive räsonnierender Privatleute kommentiert und darüber hinaus politisch beeinflußt.

IV. Die Werke im einzelnen

Die schon erwähnten Romane "Der goldne Spiegel" (1772) und "Aristipp und einige seiner Zeitgenossen" (1800-1802) stehen am Anfang und am Ende einer langjährigen literarischen Auseinandersetzung Wielands mit seinem Thema. Es bietet sich an, den Verständniswandel in seinem Staatsdenken, und hier insbesondere die festgestellte antiabsolutistische Wendung, schwerpunktmäßig anhand dieser beiden, in einem zeitlichen Abstand von etwa dreißig Jahren entstandenen Werke herauszuarbeiten. Daneben ist auf andere Arbeiten einzugehen, die für den Entwicklungsgang der Wieland‘schen Staatsauffassung maßgeblich sind.

1. "Der goldne Spiegel"

Zeitlich zwischen dem "Agathon" und den "Abderiten" stehend - beide Werke befassen sich eher kursorisch mit seinem Erkenntnisgegenstand - rückt Wieland im "Goldnen Spiegel" Fragen der allgemeine Staats- und der Gerechtigkeitslehre in den Mittelpunkt der epischen Handlung.

Wieland hat die Fabel des "Goldnen Spiegels" mit Rücksichtnahme auf die damalige Zensur in den Orient verlegt. Der "bürgerliche" Hof-Philosoph Danischmend referiert seinem an Schlaflosigkeit leidenden Fürsten Schach-Gebal allabendlich die Geschichte Scheschians, eines ehemals benachbarten Reiches. Danischmend nutzt diese Gelegenheit in aufklärerischer Absicht, um "dem Sultan mit guter Art Wahrheiten beizubringen, die man, auch ohne Sultan zu sein, sich nicht gern geradezu sagen läßt" (II/6/30). Die Erstausgabe des "Goldnen Spiegels" von 1772 endet mit der Schilderung der monarchischen Blütezeit des Reiches unter der Regentschaft König Tifans, und bringt ihrem Verfasser den Ruf an den Weimarer Hof ein. In der 1794 veröffentlichten Ausgabe von "letzter Hand" wird die Geschichte demgenüber um einen pessimistischen Schluß ergänzt, der den Untergang des Reiches als Folge revolutionärer Wirren schildert. Wieland trug so seinem gewandelten Staatsverständnis auch dramaturgisch Rechnung.

a) Literarische Staatslehre

Der "Goldne Spiegel" liest sich wie eine Staatsformenlehre im literarischen Gewand. Ihr Grundgerüst ist die antike, auf Herodot und Aristoteles zurückgehende Dreigliederung der Staatsformen in Monarchie, Aristokratie und Demokratie und ihre Deviationen Tyrannis, Oligarchie und Ochlokratie. Seine Dynamik erhält der Handlungsverlauf durch Verwendung der ebenfalls auf antiken Vorbildern beruhenden Staatszyklenlehre. In der Geschichte des scheschianischen Reiches lösen die einzelnen Staatsformen einander zyklisch mit innerer Zwangsläufigkeit ab und gelangen erst unter der Regentschaft König Tifans zur Synthese.

Wieland führt den von ihm beschriebenen Kreislauf der Staatsformen auf eine unvermeidliche Erosion der politischen Kultur zurück. Weil alle guten Dinge "unter den Händen der Menschen nicht lange unbeschädigt" (II/7/319) bleiben, ist auch die ideale monarchische Staatsform ebenso vergänglich wie jede andere auch. Sobald die "freie Überzeugung des Volkes von der einleuchtenden Vernunftmäßigkeit"(341) der staatlichen und rechtlichen Ordnung schwindet, verfällt die politische Kultur und bewirkt die Auflösung des politischen Gemeinwesens; das Rad der Staatsformen beginnt sich wieder zu drehen. Wieland teilt mit dieser Einsicht den Erkenntnisstand der heutigen Staatslehre: Auch der moderne, weltanschaulich neutrale Staat lebt von einer Voraussetzung, die er selbst nicht gewährleisten kann - dem Wertekonsens seiner Bürger.

Die ideale monarchisch-konstitutionelle Staatsordnung, der die ebenfalls auf Herodot zurückgehende Idee der Mischverfassung Modell steht, verbindet die schematisch-dreigliedrigen mit den dynamisch-historischen Elementen der Staatsorganisation. Sie ist anhand eines von König Tifan ausgearbeiteten Katalogs natürlicher Rechte und Pflichten entwickelt worden (116 ff.):

1) Gesetzgebungsauftrag - die Pflichten und Rechte des Königs, der Nation und der einzelnen Stände (Adel, Priesterschaft, Städte, Landbevölkerung) werden in einem allgemeinen Gesetzbuch festgelegt;

2) Das Gesetzeswerk ist allgemeinverständlich in der Landessprache abzufassen, jede Auslegung und Kommentierung der Gesetze ist unzulässig;

3) Die Gesetzesunterworfenen haben einen Eid auf die Verfassung zu schwören;

4) Gesetzgebende und vollziehende Gewalt sind im Rahmen der Gesetze an die Person des Königs gebunden; die Stände des Landes kontrollieren über die Ständeversammlung die Staatsverwaltung.

5) Die königliche Exekutive unterliegt dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, d. h. jede erlassene Verordnung muß mit dem "Buch der Pflichten und Rechte" übereinstimmen.

b) Wohlfahrtsstaatliches "suum cuique"

Das im "Goldnen Spiegel" ausführlich beschriebene Szenario feudalabsolutistischer Willkür, Mätressen- und Günstlingswirtschaft außerhalb der Regierungszeit König Tifans läßt Sultan Schach-Gebal nach seinen grundlegenden Herrscherpflichten fragen, die sein Hof-Philosoph Danischmend ebenfalls in einem Katalog zusammenfaßt:

"Einen jeden sein Recht widerfahren zu lassen, und alle Ungerechtigkeiten, die er nicht verhindern kann, zu bestrafen;

Die tauglichsten Personen zu den öffentlichen Ehrenstellen und Ämtern zu befördern;

Die Verdienste zu belohnen;

Die Staatseinkünfte weislich anzuwenden;

Und seinen Völkern sowohl innerliche Ruhe als Sicherheit vor auswärtigen Feinden zu verschaffen." (II/6/162)

Die ersten drei Maximen des politischen Tugendkanons entsprechen der aristotelisch-aquinischen Unterscheidung in iustitia distributiva und iustitia commutativa, der zuteilenden und der ausgleichenden Gerechtigkeit. Dem absolutistischen Staatszweck des bonum comune mit seinen polizei- und wohlfahrtsstaatlichen Elementen entsprechend, liegt der Schwerpunkt der vorgestellten Herrschaftsethik weniger auf der iustitia commutativa als auf der iustitia distributiva. Weil Gerechtigkeit im aristotelischen Verständnis kein objektives Prinzip, sondern eine Tugend ist, gewährt, belohnt, verteilt und verwendet der Idealfürst Danischmends. Wieland versteht die klassische Gerechtigkeitslehre des "suum cuique" somit lediglich im absolutistischen Sinn als eine ethische Pflicht des Herrschers, jedem das Seine zu gewähren. Ein Rechtsanspruch der Untertanen auf pflichtgemäße Herrschaftsausübung durch den Fürsten besteht nicht.

c) Idealstaat

Gegenüber dem "realen" Staat Schach-Gebals ist der im "Goldnen Spiegel" entworfene Idealstaat bereits der Kodifikationsidee der Aufklärung mit ihren materiellen naturrechtlichen Bezügen und der rechtlichen Selbstbindung des Regenten verpflichtet. Politische Herrschaft wird nicht mehr wie im Frühabsolutismus als begründungsfreier Akt fürstlicher Willkür verstanden, sondern hat sich im Interesse einer Verschmelzung von Politik und Moral am Wertmaßstab der empirisch ermittelbaren "Natur der sittlichen Dinge" zu orientieren. Dementsprechend sind die positiven Gesetze der allgemeinverbindliche Ausdruck des naturrechtlich begründeten allgemeinen Besten und verkörpern nicht lediglich die Autorität des absolutistischen Gesetzgebers.

Obwohl Wieland sich im "Goldnen Spiegel" gegen die frühabsolutistische Variante des Feudalstaats ausspricht und die konstitutionelle Monarchie als beste Staatsform darstellt, kennzeichnet auch seinen idealen Souverän jenseits aller verfassungsmäßigen Beschränkung noch immer eine spätabsolutistische Machtfülle. Der Regent repräsentiert Exekutive und Legislative in Personalunion, die Gewaltenteilung ist nicht funktional sondern ständisch eingerichtet, das Gemeinwesen ist in Stände und Zünfte gegliedert, Staat und Gesellschaft werden nicht unterschieden. Die scheschianische Bevölkerung ist einer "der wichtigsten Gegenstände der königlichen Vorsorge" (222). Es herrscht ein geschlossenes und staatlich gelenktes Zunftwesen ohne marktwirtschaftliche Elemente. Freiheit und Eigentum sind nicht vor staatlichen Eingriffen gesichert. Künste, die keinen anderen Nutzen haben als Üppigkeit und Müßiggang, dürfen nicht ausgeübt werden (260). Höchstpersönliche Lebensbereiche wie Ehe und Familie sind gesetzlich reglementiert, es besteht Heiratszwang für jeden, "der nicht eine angeborne oder zufällige körperliche Untüchtigkeit von der unverbesserlichen Art gerichtlich erweisen konnte." (224)

2. Zwischen Absolutismus und Liberalismus

An der fehlenden Reformbereitschaft der überkommenden Herrschaftselite, an die Wieland sich in aufklärerisch-didaktischer Absicht gewandt hatte, konnte selbst die maßvolle Programmatik des "Goldne Spiegels" nichts ändern. Wieland hielt gleichwohl jede offensive Modernisierung der politischen Ordnung, insbesondere den Weg des französischen Bürgertums, die Staatsgewalt revolutionär zu okkupieren, in Übereinstimmung mit großen Teilen des deutschen Bürgertums für falsch und sah sich in seiner Haltung durch die ihre Kinder verschlingende Französische Revolution mehr als bestätigt.

Wie viele andere bürgerliche Intellektuelle hatte Wieland die revolutionären Umwälzungen beim französischen Nachbarn zunächst enthusiastisch begrüßt. Mit der Hinrichtung Ludwig XVI. und dem Terror des Jakobinischen Wohlfahrtsausschusses revidierte er jedoch seine Meinung , ohne aber in das Lager der Gegenrevolution zu wechseln. In seinen Augen war Frankreich von den andauernden Revolutionswirren schließlich nur noch mit Hilfe eines charismatischen Alleinherrschers nach dem literarischen Vorbild seines Königs Tifan zu erlösen. Diese Rolle konnte nach der Einschätzung Wielands nur Napoleon Bonaparte ausfüllen, dessen steilen politischen Aufstieg er aufmerksam verfolgt hatte.

Nichtsdestoweniger hielt Wieland es seit den 1780er Jahren entgegen seiner ursprünglichen politischen Programmatik im "Goldnen Spiegel" für unerläßlich, einzelne Daseinsbereiche dem umfassenden staatlichen Herrschaftsanspruch zu entziehen und der gesellschaftlichen Selbstregulation zu überlassen. Er wählte damit quasi eine gemäßigtere Variante, das autoritäre Regime des Absolutismus in Frage zu stellen. Seine Publizistik und Dichtung näherte sich jetzt zunehmend der Position eines politisch aufgeklärten Liberalismus an, der die grundlegende Umgestaltung der Staats- und Rechtsordnung nach den Maßgaben des bürgerlichen Individualismus und der sich zum Ende des 18. Jahrhunderts allmählich herausbildenden kapitalistischen Wirtschaftsverfassung fordert.

Der Übergang seines Denkens zum politischen Liberalismus wird durch den 1788 erschienenen Essay "Das Geheimnis des Kosmopoliten-Ordens" markiert. Wieland hatte gewissermaßen über die Formation der Geheimgesellschaft und die Idee der Gelehrtenrepublik einen gesellschaftlichen Raum entdeckt, der sich aus dem staatlichen Herrschaftsapparat ausspart. Staat und Gemeinwesen bzw. "bürgerlicher Verein" werden von ihm nicht mehr gleichgesetzt, sondern treten sich gegenüber. Durch die Formation der Geheimgesellschaft übernimmt die bürgerliche Gesellschaft vom Staat den Bildungsauftrag des Humanismus und damit die eigenverantwortliche Gestaltung einzelner Daseinsbereiche. Zugleich organisiert sich das Weltbürgertum in der imaginären Gelehrtenrepublik, in der sich zwischen den Koordinaten Gleichheit und Meinungsfreiheit die öffentliche Meinung bzw. politische Öffentlichkeit als Trägerin der allgemeinen Vernunft bildet. Solange diese Formationen keine vitalen Herrschaftsinteressen des Ancien régime berühren, sondern dem "Fortgang der Kultur zur Humanität" dienen, sind sie ihm für ihre Belange keine Rechenschaft schuldig und können der Selbstregulation überlassen bleiben.

3. "Aristipp und einige seiner Zeitgenossen"

Verbindlichen literarischen Ausdruck erhielt das liberale Staatsdenken Wielands in seinem zwischen 1800 und 1802 entstandenen letzten großen Roman. Das zugleich historische, philosophische, politische, humoristische und erotische Werk entwirft vordergründig ein breitgefächertes kulturgeschichtliches Panorama der antiken griechischen Poliswelt nach dem Peloponnesischen Krieg. Die fast enzyklopädische Ausbreitung antiken Wissens dient aber nicht nur dem Bildungsideal des Aufklärung, sondern ist darüber hinaus symbolisch auf die Gegenwart Wielands bezogen. Motivisch und ideengeschichtlich von dem weltgeschichtlichen Ereignis der Französischen Revolution durchdrungen, ästhetisiert der "Aristipp" elementare zeitgeschichtliche Erfahrungen seines Autors, die wie im "Goldnen Spiegel" in den Entwurf eines idealen Staates münden.

Wieland läßt den Sokratiker Aristipp mit befreundeten Briefpartnern über 140 Briefe in vier Büchern wechseln. Kyrene, die Heimatstadt Aristipps, wird im Verlauf des ersten Buchs Schauplatz eskalierender Auseinandersetzungen rivalisierender politischer Gruppierungen. Einer oligarchischen Phase mit anschließenden Tyrannis folgen Revolution und Bürgerkrieg. Schließlich kommt es auf Vermittlung zweier Freunde Aristipps zur Befriedung des Gemeinwesens und zur Schaffung einer "aristo-demokratischen" Verfassung. Aristipp kommentiert diese Entwicklung in seinen Briefen und entwirft sein eigenes Modell einer idealen Staatsorganisation.

Die im "Agathon" oder im "Goldnen Spiegel" entworfene Öffentlichkeit höfischer Repräsentanz wird im "Aristipp" durch die öffentliche Meinung politisch räsonnierender Privatleute abgelöst. Die Bedingungen des idealen Staates werden in einem staatsfernen, d. h. weitgehend repressionsfreien gesellschaftlichen Binnenraum bürgerlicher Briefpartner kontrovers diskutiert und die gewonnenen Erkenntnisse durch Verbreiten der Briefe öffentlich gemacht. Das kritische Räsonnement beeinflußt so die öffentliche Meinungsbildung und gewinnt - etwa durch seine Einflußnahme auf die kyrenische Mischverfassung - auch praktische politische Bedeutung .

 

a) Selbstkritik der Aufklärung

Wieland setzt sich in seinem "opus magnum", das er als Krone seines fünfzigjährigen dichterischen Schaffens bezeichnete, kritisch sowohl mit den vereinseitigenden Tendenzen der rationalistischen Staatslehre, als auch mit dem Organismusdenken der sich damals formierenden politischen Romantik auseinander. Beide Positionen gründen für ihn trotz ihrer diametralen Gegensätze in der Philosophie Platos. Zum einen erhebt er Plato (statt Hobbes) zum Urvater der mechanistischen Staatswissenschaft und ihrer (pseudo-) wissenschaftlichen Methode, "more geometrico" feste Regeln der Staatsgründung zu entwickeln:

"Plato scheint mir von den Geometern und Rechnern angenommen zu haben, daß er immer gewisse Begriffe und Sätze, als an sich selbst klar, ohne Beweis voraussetzt (...) Wo von Zahlen, Linien und Winkeln die Rede ist, kann diese Art zu räsonnieren nicht leicht irreführen; (...) aber wo es um Auflösung solcher Aufgaben zu tun ist, die den Menschen und dessen Tun und Lassen (...) betreffen, kurz, bei Gegenständen, an welche man weder Meßschnur noch Winkelmaß anlegen kann, findet jene Methode keine sichere Anwendung." (XI/36/175 f.)

Zum anderen werden in Platos "Staat" Denkfiguren bzw., aus aufklärerischer Sicht, Irrtümer der romantischen Philosophie hineingelesen:

"Der Irrtum (Platos) liegt darin, daß er die Bürger als organische Teile eines politischen Ganzen, d. i. als ebensoviele Gliedmaßen eines Leibes betrachtet, welche nur durch ihre Einfügung in denselben leben und bestehen, keinen Zweck für sich selbst haben, sondern bloß zu einem gewissen besondern Dienst, den sie dem ganzen leisten, da sind. Da dies bei den Gliedmaßen eines jeden organischen Körpers wirklich der Fall ist, so kann man freilich mit Grund behaupten: daß die Glieder um des Leibes willen da sind, nicht der Leib um der Glieder willen." (179)

b) Trennung von Staat und Gesellschaft

Demgegenüber gründet das Staatsverständnis Aristipps auf dem individualistischen Menschenbild des Liberalismus:

"Allein mit einer bürgerlichen Gesellschaft, die aus lauter für sich bestehenden Gliedern zusammengesetzt ist, hat es (...) eine ganz andere Bewandtnis: Die Menschen, woraus sie besteht, haben sich (wie Plato selbst anfangs voraussetzt) bloß in der Absicht vereinigt, ihre natürlichen, d. i. ihre weltbürgerlichen Rechte, in die möglichste Sicherheit zu bringen, und sich durch diesen Verein desto besser zu befinden. Hier ist es also gerade umgekehrt: der Staat ist um des Bürgers willen da, und nicht der Bürger um des Staates willen. " (aaO.)

An diesen Befund knüpft sich im "Aristipp" die Forderung einer Trennung von Staat und Gesellschaft im Sinne einer Begrenzung der staatlichen Wirksamkeit, durch die sich die naturrechtlich begründete individuelle Freiheitswahrung verwirklichen läßt:

"Damit dies möglich werde, darf der einzelne in freier Anwendung und Ausbildung seiner Anlagen und Kräfte nur so wenig als möglich, d. i. nicht mehr eingeschränkt werden, als es der letzte Zweck des Staates, mit Rücksicht auf die äußern von unserer Willkür unabhängigen Umstände, unumgänglich nötig macht." (180)

Aus der Forderung, den Eigenwert der menschlichen Persönlichkeit zu achten, leitet Aristipp zugleich den Anspruch auf ein unverletzliches Eigentums- und Gleichheitsrecht innerhalb einer Gesellschaft ab, die ihre ständischen Schranken beseitigt hat:

"Alle Menschen haben, als Menschen, gleiche Ansprüche auf den Gebrauch ihrer Kräfte, und an die Mittel, welche die Natur, der Zufall und ihr eigener Kunstfleiß ihnen zu ihrer Erhaltung und zur Beförderung ihres Wohlbefindens darreichen (...) Mich dünkt, zwei Sätze folgen notwendig und unmittelbar aus dieser durch sich selbst klaren Wahrheit: erstens, daß jeder Mensch, der einen anderen vorsätzlich beleidigt, sich eben dadurch für einen Feind aller übrigen erklärt; zweitens, jedem auf das, was er sich ohne Beraubung eines anderen erworben hat, ein unverletzliches Eigentumsrecht zuzugestehen."(86)

c) Besitzindividualistisches suum cuique

Die besitzindividualistische Akzentuierung des Gleichheitsgedankens im "Aristipp" wird sodann durch eine Neubestimmung des "suum cuique" untermauert:

"In dieser Rücksicht kann also mit vollkommenem Grunde gesagt werden: Jedem das Seinige - nicht zu geben (denn das hat er schon) sondern zu lassen, und im Fall, daß es ihm mit Gewalt genommen worden, ihm entweder zur Wiedererlangung des Geraubten oder zu einer angemessnen Entschädigung zu verhelfen, werde von allen Menschen auf dem ganzen Erdboden Gerechtigkeit genennt, oder, falls sie noch keine Worte zur Bezeichnung allgemeiner Vernunftbegriffe hätten, als Gerechtigkeit gefühlt und anerkannt." (aaO)

Wie im "Goldnen Spiegel" macht Wieland das "suum cuique" zum Mittelpunkt seiner Gerechtigkeitslehre. Er betont aber nunmehr den Aspekt der ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia commutativa) vor dem der autoritär vermittelten zuteilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva), wie dies noch in der politischen Herrschaftsethik des "Goldnen Spiegel" der Fall war. Der agrarisch-feudale und ständisch gegliederte Wohlfahrtsstaat Tifans sucht seinem Anspruch nach als "Polizey-Staat" das Gemeinwohl durch die obrigkeitliche Regulierung sämtlicher Daseinsbereiche der Untertanen zu verwirklichen. Dagegen wendet sich die liberale Staatsauffassung Wielands, für den der Staatszweck im wesentlichen nur noch darin besteht, die potentiell gleichen Freiheits- und Eigentumsrechte der nicht länger ständisch organisierten Bürger voneinander abzugrenzen und zu sichern. Im Bereich der materialen Gerechtigkeit wird dieses Prinzip im "Aristipp" durch die besitzindividualistische Akzentuierung des "suum cuique" verwirklicht, jedem das Seine "nicht zu geben (denn das hat er schon), sondern zu lassen".

d) Der Eigentümerstaat

Die von Wieland im "Goldnen Spiegel" vertretene Idee des spätabsolutistischen "sozialen" Wohlfahrtsstaats mit seiner "Moral-Economy-Ideologie" ist im "Aristipp" von der Ideologie der liberalen Eigentümerstaates abgelöst worden: Wer nichts ererbt und nichts erworben, dem wird auch nichts gegeben. Gleichzeitig entsteht aber durch die Aufwertung des Persönlichkeitsrechts ein gewichtiges Widerlager zur Anarchie des Marktes. Aus dem naturrechtlich abgeleiteten Eigenwert der Persönlichkeit folgt der soziale Geltungsanspruch jedes einzelnen. Das Recht der persönlichen Ehre steht gleichberechtigt neben der Unverletzlichkeit des Eigentums:

"Jeder Mensch, der einen anderen vorsätzlich beleidigt, (erklärt) sich eben dadurch für einen Feind aller übrigen".

Wie sich für Wieland menschliche Würde und wirtschaftliche Not, von der in Deutschland gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts große Teile der Bevölkerung betroffen waren, miteinander verbinden lassen, teilt er dem Leser allerdings nicht mit.

Wieland befürwortet auch im "Aristipp" die monarchische Regierungsform und lehnt direkte Demokratie und Volkssouveränität als verantwortungslose "Vielherrscherei" ab; gleichwohl integriert die von ihm vorgeschlagene Mischverfassung neben den monarchischen und aristokratischen zunehmend auch gemäßigt demokratische Elemente. Sein Modell einer gewaltenteilig ausgestalteten, aristo-demokratischen Staatsorganisation ist Ergebnis seiner intensiven Auseinandersetzung mit der französischen und der englischen Verfassung, und wurde von ihm schon vor dem "Aristipp" in seinem Werk "Gespräche unter vier Augen" der Öffentlichkeit vorgestellt. Allerdings traf Wieland damit den politischen Nerv seiner Zeit anders, als von ihm erwartet: Noch bevor die Wiener Zensurbehörde die "Gespräche" 1799 indizierte, fällte Goethe in einem Brief an Schiller über das Werk ein vernichtendes Urteil:

"Eine der lustigsten Begebenheiten unseres Zeitalters kann ich vorläufig nicht verschweigen. Wielanden ist durch ein heimlich demokratisches Gericht verboten worden, die Fortsetzung seiner ,Gespräche‘ im ,Merkur‘ drucken zu lassen; das nächste Stück wird zeigen, ob der gute Alte gehorcht. Der arme Verfasser des ,Goldnen Spiegels‘ und des ,Agathon‘, der zu seiner Zeit Königen und Herren die wundersamsten Wahrheiten sagte, der sich auf Verfassungen so trefflich verstand, als es noch keine gab, der edle Vorläufer des neuen Reiches muß nun, in den Zeiten der Freiheit, da Herr Posselt täglich den bloßen Hintern zum Fenster hinausreckt, da Herr Gentz mit der liberalsten Zudringlichkeit einem neuen Könige eine unbedingte Preßfreiheit abtrutzt, die Schoßkinder seines Alters, die Produkte einer Silberhochzeit, gleich namenlosen Liebeskindern verheimlichen. Vor 14 Tagen ohngefähr kam er nach Weimar, um für diese Produktionen, mit denen er sich im stillen beschäftigt hatte, einiges Lob einzuernten, er las sie in allen Etagen unsers Geschmacks- und Gesellschaftshauses vor und ward mit mäßiger Gleichgültigkeit aufgenommen, so daß er für Ungeduld bald wieder aufs Land flüchtete; indessen hielt man Rat und jetzt, hör ich, ist ihm angekündigt, diese Mestizen eines aristo-demokratischen Ehebandes in der Stille zu erdrosseln, und im Keller zu begraben, denn ausgesetzt dürfen sie nicht einmal werden."

V. Schlußbetrachtung

Sein Anspruch, sich im Sinne eines hohen ethischen Begriffs von Menschlichkeit parteilich zu verhalten, stellt Wieland in eine Reihe mit Voltaire, Lessing, Büchner, Heine, Zola, Hauptmann und vielen anderen, die sich auch außerhalb ihrer Literatur für Recht und Menschlichkeit engagiert haben. Gleichwohl ist die Bedeutung seiner Werke neben der klassischen und der romantischen Dichtung verblaßt. Im Gegensatz zu Goethe, dessen apolitisch-"reiner" Kunstbegriff sich im Bildungsbewußtsein des Bürgertums durchsetzte, hielt Wieland an dem aufklärerisch-vorklassischen Ideal des "aut prodesse volunt aut delectare poetae" fest. Für den Aufklärer folgt der praktische Nutzen des Kunstschönen aus seiner Bezogenheit auf politische und gesellschaftliche Zeitfragen. Wie der zitierte Brief Goethes zeigt, kam die politische Ästhetik Wielands jedoch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts im biedermeierlichen "Geschmacks- und Gesellschaftshaus" aus der Mode. Dessen "klassische" Vorbehalte gegenüber einer gesellschaftlich engagierten Dichtung wirken bis heute in dem Bemühen fort, die schönen Künste als Verbündete der Humanität politisch zu neutralisieren und sie lieber als "milde Narkose" zu begreifen.

Schiller forderte im Sinne des entpolitisierten Humanismus der Weimarer Klassik, "für die Verfassung Bürger zu schaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben" könne (Über die ästheitsche Erziehung des Menschen"). In diesem Verständnis weist auch Goethes Schreiben auf den bereits erfolgten Funktionswandel der Literatur hin. Während die Dichtung Wielands zugleich politische Aufgaben erfüllte und "zu seiner Zeit Königen und Herren die wundersamsten Wahrheiten" sagte, gibt sie ihren Autor in "Zeiten der Freiheit", ja der "liberalsten Zudringlichkeit" aufgrund ihrer anachronistischen Zielsetzung offenbar nur noch der Lächerlichkeit preis. Goethe hatte sich dagegen zu "größerer Bestimmtheit und Reinheit in allen Kunstfächern" auszubilden gesucht und so die klassische Epoche der deutschen Literatur eingeleitet.

Aber nicht nur das Kunst-, auch das Politikverständnis des Spätaufklärers Wieland machte schon im 19. Jahrhundert "keinen Staat mehr". Das preußisch-deutsche Bürgertum ging nach der gescheiterten Revolution von 1848 den Verfassungskompromiß von 1850 ein und entwickelte in der Folgezeit ein neofeudales Selbstverständnis. Hundert Jahre nach Erscheinen des "Aristipp" wurde Wielands politischer Humanismus nur noch als eine "weichliche Verquickung von Politik und Moral" begriffen, der es Nietzsches Herrenmoral und das Ideal der Mitleidslosigkeit entgegenzusetzen galt. Sein Bemühen um rechtsförmliche und materiale Gerechtigkeit hatte den rassistischen "Grundauffassungen von Volkstum und Staat" zu weichen. In Deutschland dämmerte der totale Staat herauf, dessen ideologische Wurzeln Wieland entschieden, aber letztendlich vergebens bekämpft hatte: Als Ergebnis einer geschichtlich beispiellosen Umwertung aller Werte fand sich die Gerechtigkeitsformel des "suum cuique" auf dem Tor des wenige Kilometer vor Weimar gelegenen Konzentrationslagers Buchenwald wieder. - Person und Werk Wielands stehen demgegenüber stellvertretend für eine andere ideengeschichtliche Tradition. Das liberale Substrat seiner politischen Anschauungen weist ihn Jahrzehnte vor den Autoren des Vormärz als einen der wenigen namhaften literarischen Vordenker des freiheitlichen Rechtsstaats in Deutschland aus.



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